Kurz und bündig
Sandro Haller bringt eine kritische Stimme in die Podiumsdiskussion «Guidelines – Fluch oder Segen?» am Physioswiss Kongress 2025. Mit gegen 85'000 Therapien und jahrzehntelanger Erfahrung sieht sich der Physiotherapeut als «Physio-Dinosaurier» – und plädiert für mehr Praxisnähe statt blinder Leitlinientreue.
Interview: Fabienne Reinhard
Sandro Haller: Guidelines spielen eine wichtige Rolle für die interprofessionelle Wahrnehmung der Physiotherapie im wissenschaftlichen Umfeld. Sie bieten insbesondere Studierenden und Berufsanfänger:innen eine ideale Basis für die Entscheidungsfindung. Doch sie dürfen nicht als starre Regeln verstanden werden, sondern als Orientierungshilfe, wie etwas getan werden könnte. Wissenschaftliche Evidenz ist für mich nur der sichtbarste Teil der ganzen Wahrheit.
Vieles ist der Wissenschaft noch verborgen. Nur weil es keine Evidenz gibt, bedeutet das nicht automatisch, dass eine Methode unwirksam ist – manchmal fehlen schlicht die passenden Studien. Zudem gibt es ein methodisches Problem: Die Rekrutierung von Probanden:innen erfolgt meist nach ärztlicher Diagnostik, während physiotherapeutische Interventionen klinische Subgruppierungen erfordern. Eine Therapie kann nur dann optimal wirken, wenn sie individuell abgestimmt ist. Doch genau diese Individualität lässt sich nur schwer mit wissenschaftlichen Studienformaten vereinen, deren Ziel die Verallgemeinerung eines komplexen Sachverhalts ist.
Entscheidend ist, das klinische Bild der Patient:innen in seiner gesamten Komplexität zu erfassen. Ein wohlüberlegter Mix verschiedener Interventionen ist meist der Schlüssel zum Erfolg. Dabei bleibt Clinical Reasoning mit einer konsequenten Test-Retest-Strategie der Goldstandard für fundierte therapeutische Entscheidungen.
Ich beobachte, dass viele Berufsanfänger:innen, die stark auf evidenzbasierte Medizin (EBM) getrimmt sind, immer seltener passive und manuelle Techniken anwenden. Sie verkommen immer mehr zu Gymnastikinstruktor:innen mit Bachelor-Abschluss. Ich werde am Physioswiss Kongress 2025 dafür einstehen, dass wir unseren einzigartigen Beruf mit Hirn, Herz und Hand weiterführen können – und vielleicht gelingt es mir sogar, aus ein paar «Turner:innen» wieder «Handwerker:innen» zu machen.
Ich bin überzeugt, dass am Kongress nicht nur die Seite der Wissenschaft in den Fokus gestellt wird. Vielmehr soll die Bühne auch denjenigen Physiotherapeut:innen gehören, die Tag für Tag das Beste für ihre Patient:innen geben! Ich freue mich jedenfalls darauf, mein Netzwerk zu pflegen und angeregte Diskussionen zum Thema Guidelines zu führen.
Weitere Informationen zum Physioswiss Kongress 2025 finden Sie unter physioswiss-kongress.ch.