Domizilbehandlungen: Interprofessionalität in der Westschweiz weist Defizite auf
Die Physiotherapeutin Martina Tuozzo wagte vor knapp einem Jahr den Schritt in die Selbstständigkeit. Mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen hatte und warum sie es dennoch wieder tun würde, verrät sie im Interview.
Martina Tuozzo: Die Physiotherapie hat mich schon immer fasziniert – ich bin ursprünglich gelernte Kauffrau. Eines Tages hatte ich das Gefühl, dass die Selbstständigkeit der nächste Schritt für mich sei. Inspiriert hatte mich auch eine andere selbstständig erwerbende junge Physiotherapeutin, die ich an einer Weiterbildung kennengelernt hatte. Die Selbstständigkeit ist für mich die perfekte Kombination aus meinen gelernten Berufen: Kauffrau und Physiotherapeutin.
Ich war sehr dankbar um die hilfreichen Dokumente und Anleitungen auf der Website von Physioswiss und dem Kanton St. Gallen. Zudem habe ich den Physioswiss-Kurs «Clever in die Selbstständigkeit» besucht und mich mit Bekannten und Fachleuten ausgetauscht.
In meiner Region gab es keine Möglichkeit, eine Praxis zu übernehmen. Deshalb suchte ich nach Räumlichkeiten und wurde schliesslich fündig. Die Praxis baute ich dann mithilfe von Familie und Freunden grundlegend neu auf.
Meine kaufmännische Ausbildung ermöglichte es mir, ein provisorisches Budget zu erstellen. Da ich die effektive Auslastung nur annehmen konnte, waren Prognosen schwierig. Die Fixkosten hatte ich eher unterschätzt – es kam schon einiges zusammen. Aber ich instruiere meinen Patient:innen viele Übungen mit eigenem Körpergewicht. Diese können sie auch zu Hause machen. So startete ich mit einer Liege und kleineren Hilfsmitteln. Weil ich immer ein Sparfuchs war, konnte ich die gesamten Kosten selbst tragen.
Die Zuverlässigkeit und Regelmässigkeit muss für die Patient:innen gewährleistet sein. Eine Physiotherapeutin und ich übernehmen gegenseitig die Ferienstellvertretung – ein Miteinander statt Gegeneinander. Aber klar, wenn man krank ist, wird es schwierig. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass die Leute bei einer Terminverschiebung Verständnis haben.
Zu Beginn hatte ich etwas Respekt, da ich nicht aus der Region bin. Um auf mein Unternehmen aufmerksam zu machen, verteilte ich Flyer für die Eröffnungsfeier in den Haushalten und schaute bei den Ärzt:innen in der Region vorbei – ein voller Erfolg! Mir ist es wichtig, gute Arbeit zu leisten. Das zahlt sich aus. Ich bin sehr zufrieden mit der Entwicklung.
Ich würde es jederzeit wieder machen! Ich habe grosse Freude an der Arbeit mit den Patient:innen, den administrativen Tätigkeiten und dem interdisziplinären Austausch. Es braucht Energie und es gibt immer wieder neue Herausforderungen, aber es kommt viel Wertschätzung zurück und ich lerne täglich Neues dazu.
Was Martina Tuozzo bereits hinter sich hat, steht Anette Volk noch bevor: Sie macht sich aufs neue Jahr selbstständig. Vor gut einem Jahr fragte ein Arbeitskollege sie an. Diesen August haben die beiden passende Räumlichkeiten direkt in der Nachbarschaft von Volk gefunden. Durch den nahen Standort kann sie ihre beiden Kinder in den Kindergarten bringen und über den Mittag nach Hause gehen. «Wenn man kleine Kinder hat, ist es schwierig bis unmöglich, sich selbstständig zu machen. Jetzt sind sie vier- und sechsjährig. Wir sind reif für diesen Schritt», stellt sie fest. Sie hat auf Ende Jahr gekündigt, um dann ihre Selbstständigkeit im neuen Jahr mit anfangs 40 Prozent starten zu können.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Volk die Selbstständigkeit überlegen durfte: Unter anderem fragte ihre Gynäkologin sie fürs Einmieten in ihrer Praxis an, da Volk auf Beckenbodentherapie spezialisiert ist. Doch damals waren die Kinder noch zu jung. Volk hofft, dass die Gynäkologin ihr nun Patientinnen überweist. Auch Besuche bei den Arztpraxen in der Gegend stehen noch an.
Volk und ihr Arbeitskollege haben je eine Einzelfirma gegründet und bilden zusammen eine einfache Gesellschaft. Die gegenseitige Stellvertretung ist damit auch geregelt. Die Initialkosten sind schon wegen der Renovierung sehr hoch und die beiden benötigen teure Geräte für die Arbeit – auch aus diesem Grund haben sie auf eine GmbH verzichtet. Volk kann ihren Teil aber selbst finanzieren. Was ihr noch ein wenig Angst macht, ist die Administration. Notfalls steht ihr aber ein Treuhandbüro zur Seite. Nun freut sie sich auf die bald gewonnene Unabhängigkeit, Entscheidungsfreiheit und Flexibilität – aber am meisten natürlich auf die Eröffnung selbst!