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Gesucht und gefunden: Toolbox zur Untersuchung somatosensorischer Funktionen

Welches sind die Kategorien und Modalitäten, die bei der Untersuchung der somatosensorischen Funktion der unteren Extremitäten bei Kindern mit neuromotorischen Einschränkungen eingeschlossen werden müssen? Diese Forschungsfrage stellten sich Petra Marsico und ihr Team. Ihre Delphi-Studie bringt mit einer Toolbox Licht ins Dunkle.

PA1 2023 Forschungsfonds Marsico
Text und Foto: Petra Marsico

Es ist unbestritten: Somatosensorische Funktionen wie Berührung, Druck, Vibration und Temperatur haben einen äusserst wichtigen Einfluss auf alle täglichen Aktivitäten und das motorische Lernen (de Haan & Dijkerman, 2020). Bei Aktivitäten der oberen Extremität wirken sich diese vor allem auf die Feinmotorik, die taktile Diskriminierung und die Erkennung aus (Robert et al., 2013). Bei Aktivitäten der unteren Extremitäten liegt der Schwerpunkt in der Beziehung zwischen somatosensorischen Funktionen und der Qualität des Gangbilds, der Propriozeption, der Körperrepräsentation sowie der Gleichgewichtskontrolle (Asano & Morioka, 2018; Kurz et al., 2015; Uzun Akkaya & Elbasan, 2021; Wingert et al., 2009; Zarkou et al., 2020).

Keine Einigkeit in Praxis und Forschung

Studien haben gezeigt, dass insbesondere Kinder mit neuromotorischen Beeinträchtigungen wie Zerebralparese verminderte somatosensorische Funktionen der unteren Extremitäten aufweisen (Uzun Akkaya & Elbasan, 2021; Zarkou et al., 2020). Betroffen sind beispielsweise der Tastsinn, die Vibrationswahrnehmung, der Bewegungs- und Positionssinn sowie die Körperrepräsentation. Doch welche Kategorien, Modalitäten und Messgrössen sind nötig, um die somatosensorischen Funktionen in diesem Fall untersuchen zu können? Das wollten die Physiotherapeutin und Doktorandin Petra Marsico und ihr Team herausfinden. in ihrer systematisch durchgeführte Literaturrecherche kamen sie zum Schluss, dass die angewandten Assessments meistens nur geringe oder gar keine Angaben zu psychometrischen Eigenschaften aufwiesen (Marsico et al., 2021). Dies erschwert die Interpretation der Resultate und deren Relevanz für die klinische Praxis. Auch besteht weder in der Praxis noch in der Forschung Einigkeit über die relevanten Kategorien und Modalitäten der somatosensorischen Funktionen in Bezug auf die Grobmotorik, das Gehen und die Balance.

Delphi-Ansatz für Toolbox

Um ihre Forschungsfrage beantworten zu können, wählte das Forschungsteam einen Delphi-Ansatz. Delphi-Prozesse fanden bereits in der pädiatrischen Rehabilitationsforschung Einsatz. Verschuren et el. (2011) ermittelten beispielsweise mittels eines Delphi-Ansatzes Core-Sets für Trainingstests bei Kindern mit Zerebralparese. Solche Core-Sets lassen sich in eine Toolbox integrieren und erleichtern die Auswahl für eine zielgerichtete Untersuchung (Wright & Majnemer, 2014). Genau diesen Plan verfolgten auch Marsico und ihr Forschungsteam: Sie wollten einen Konsens über die Kategorien und Modalitäten erreichen, um diese in eine Toolbox aufzunehmen.

Die Delphi-Studie umfasste vier Runden. Von den 20 befragten Expert:innen nahmen 15 an allen vier Delphi-Runden teil.

Erste Runde: Präsentation der Modalitäten

In der ersten Runde präsentierte das Forschungsteam den Expert:innen die Kategorien mit den entsprechenden Modalitäten (Abbildung 1). Die Expert:innen konnten zusätzliche Modalitäten empfehlen. Zu diesen befragte das Forschungsteam sie in der nächsten Runde.

Abbildung 1: Somatosensorische Funktionen sind in vier Kategorien mit spezifischen Modalitäten aufgeteilt. Die Kategorien Proprio-, Extero- und Interozeption haben Einfluss auf die Kategorie Körperwahrnehmung.
Zweite Runde: Konsens erlangen

In der zweiten Runde erlangten die Expert:innen einen Konsens von über 75 Prozent, dass mindestens ein Assessment aus den Kategorien der Exterozeption, der Propriozeption und der Körperwahrnehmung in die Toolbox eingeschlossen werden sollte (Abbildung 2)

Bei der Frage, welche Assessments in Frage kommen, hatten die Expert:innen bei neun Assessments eine Übereinstimmung von über 75 Prozent. Basierend auf den Expertenkommentaren formulierte das Forschungsteam schliesslich drei Kernkriterien für somatosensorische Assessments: Eignung für die klinische Praxis, Kinderfreundlichkeit und Relevanz für motorische Funktionen wie Stehen, Gleichgewicht und Gehen. 

Abbildung 2: Sechs Modalitäten (grün) erzielten einen Konsens, um in die Toolbox aufgenommen zu werden. Die schwarzmarkierten Modalitäten hielten die Expert:innen für zu wenig relevant.
Dritte Runde: Bewerten der Assessments

In der dritten Runde bewerteten die Expert:innen die Relevanz der neun Assessments anhand der erwähnten Kernkriterien mit «niedrig», «eher niedrig», «etwas hoch» und «hoch». Bei keinem Assessment erreichten sie in allen drei Kernkriterien eine Übereinstimmung von über 75 Prozent bei «etwas hoher» oder «hoher» Relevanz. Die Expert:innen beurteilten die Kernkriterien einiger Assessments unterschiedlich: So stuften sie zum Beispiel die Relevanz der taktilen Funktion mit dem Fugl-Meyer-Assessment für die Eignung in der klinischen Praxis sowie die Kinderfreundlichkeit als hoch ein. Dagegen bewerteten sie die Relevanz für die motorischen Funktionen als niedrig. Das Assessment «Aktiver Matching-Fehler» beurteilten sie zwar als sehr relevant für die motorischen Funktionen, dessen Eignung für den klinischen Einsatz und die Kinderfreundlichkeit jedoch als gering (Abbildung 3)

Abbildung 3: Die Expert:innen bewerteten die verschiedenen Assessments, indem sie ihre Einschätzung zur Eignung für den Einsatz in der klinischen Praxis (beispielsweise der Bedarf an spezieller Ausrüstung, Fachwissen oder Zeit für die Durchführung, Verarbeitung/Analyse und Interpretation) sowie zur Eignung für Kinder mit einer neuromotorischen Einschränkung ab dem Alter von fünf Jahren (aus der Perspektive des Kinds) abgaben. Weiter beurteilten sie die Relevanz für die motorischen Funktionen (Stehen, Gleichgewicht und Gehen).
Vierte Runde: Empfehlungen

In der vierten Runde gaben die Expert:innen Empfehlungen ab und machten Anmerkungen zu den drei Kernkriterien «klinische Praxis», «Kinderfreundlichkeit» und «motorische Funktionen» in Bezug auf die Umsetzung einer Toolbox (Abbildung 4).

Abbildung 4: Zusammenfassung der Expertenempfehlungen für die Umsetzung der Assessments der Toolbox.
Fazit

Die Expert:innen waren sich einig, dass insgesamt drei Kategorien (Exterozeption, Propriozeption und Körperwahrnehmung) und sechs Modalitäten (taktile Funktion, Bewegungssinn, Gelenkspositionssinn, dynamischer Positionssinn, räumliche sowie strukturelle Körperrepräsentation) der somatosensorischen Funktion für die Motorik der unteren Extremität relevant sind. Die Toolbox sollte standardisierte Assessments aus diesen sechs Modalitäten beinhalten. Die aktuell verfügbaren Assessments wiesen jedoch nicht bei allen Kernkriterien (klinische Praxis, Kinderfreundlichkeit und motorische Funktion) eine etwas hohe oder hohe Relevanz auf. Deshalb müssen diese Tests für den Einsatz in der pädiatrischen klinischen Praxis angepasst werden. Um die somatosensorischen Funktionen bei Kindern mit neuromotorischen Einschränkungen gezielt untersuchen zu können, braucht es folglich Messprotokolle und validierte 
Assessments. 

Forschungsfonds 

Physioswiss hat dieses Projekt mit einem Beitrag aus dem Forschungsfonds unterstützt. Der Forschungsfonds dient als finanzieller Träger oder Mitträger von Forschungsvorhaben im Bereich der Physiotherapie.

Petra Marsico

Physiotherapeutin PhD Candidat, Kinder-Reha Schweiz, Universitätskinderspital Zürich

Foto: © Christian Flierl

Literatur

Asano, D., & Morioka, S. (2018). Associations between tactile localization and motor function in children with motor deficits. International Journal of Developmental Disabilities64(2), 113–119. https://doi.org/10.1080/20473869.2016.1278316

de Haan, E. H. F., & Dijkerman, H. C. (2020). Somatosensation in the Brain: A Theoretical Re-evaluation and a New Model. Trends in Cognitive Sciences24(7), 529–542. https://doi.org/10.1016/j.tics.2020.04.003

Kurz, M. J., Heinrichs-Graham, E., Becker, K. M., & Wilson, T. W. (2015). The magnitude of the somatosensory cortical activity is related to the mobility and strength impairments seen in children with cerebral palsy. Journal of Neurophysiology113(9), 3143–3150. https://doi.org/10.1152/jn.00602.2014

Marsico, P., Meier, L., van der Linden, M., Mercer, T., & van Hedel., H. (2021). Psychometric Properties of Lower Limb Somatosensory Function and Body Awareness Outcome Measures in Children with Upper Motor Neuron Lesions: A Systematic Review. Developmental Neurorehabilitation25(5), 1–14.

Robert, M. M. T., Guberek, R., Sveistrup, H., & Levin, M. M. F. (2013). Motor learning in children with hemiplegic cerebral palsy and the role of sensation in short-term motor training of goal-directed reaching. Developmental Medicine and Child Neurology55(12), 1121–1128. https://doi.org/10.1111/dmcn.12219

Uzun Akkaya, K., & Elbasan, B. (2021). An investigation of the effect of the lower extremity sensation on gait in children with cerebral palsy. Gait and Posture85(6), 25–30. https://doi.org/10.1016/j.gaitpost.2020.12.026

Verschuren, O., Ketelaar, M., Keefer, D., Wright, V., Butler, J., Ada, L., Maher, C., Reid, S., Wright, M., & Dalziel, B. (2011). Identification of a core set of exercise tests for children and adolescents with cerebral palsy : a Delphi survey of researchers and clinicians1, 449–456. https://doi.org/10.1111/j.1469-8749.2010.03899

Wingert, J., Burton, H., Sinclair, R., Brunstrom, J., & Damiano, D. (2009). Joint-Position Sense and Kinesthesia in Cerebral Palsy. Arch Phys Med Rehabil90(3), 447–453. https://doi.org/10.1158/0008-5472.CAN-10-4002.BONE

Wright, F. V., & Majnemer, A. (2014). The concept of a toolbox of outcome measures for children with cerebral palsy: Why, what, and how to use? Journal of Child Neurology29(8), 1055–1065. https://doi.org/10.1177/0883073814533423

Zarkou, A., Lee, S. C. K., Prosser, L. A., & Jeka, J. J. (2020). Foot and Ankle Somatosensory Deficits Affect Balance and Motor Function in Children With Cerebral Palsy. Frontiers in Human Neuroscience14(February), 1–12. https://doi.org/10.3389/fnhum.2020.00045

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