Domizilbehandlungen: Interprofessionalität in der Westschweiz weist Defizite auf
Physiotherapeut:innen wollen möglichst rasch zu relevanten Studienergebnissen gelangen. Dieser Artikel stellt einen pragmatischen Ansatz und ein Beispiel zur fokussierten Studiensuche vor. So ist die relevante Evidenz auch mit begrenzten Zeitressourcen schnell gefunden.
Zur Problemlösung und Entscheidungsfindung greifen Physiotherapeut:innen nebst ihrem Fach- und Erfahrungswissen in einer evidenzbasierten Praxis (EBP) auch auf das Wissen aus vorhandenen Studien unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen und Patientenpräferenzen zurück (Mangold, 2013).
Klinische Problemstellungen können sie beantworten, indem sie relevante Studien anhand einer Literaturrecherche identifizieren (Messer, 2016). Eine umfassende Literaturrecherche ist aber ressourcen- und zeitintensiv und daher in der praktischen Tätigkeit nur eingeschränkt umsetzbar (Hirt, Neyer & Nordhausen, 2019).
Um eine fokussierte Studiensuche durchführen zu können, empfehlen die Autor:innen die Suche nach Reviews, also Übersichtsarbeiten, die vergleichbare Studien zur Beantwortung einer Fragestellung zusammengefasst haben (Hirt, Vetsch, Haug & Nordhausen, 2022; Vetsch et al., 2021).
Der hier vorgestellte Ablauf einer fokussierten Studiensuche zur Beantwortung einer klinischen Fragestellung orientiert sich am Rechercheprozess der schweizerischen Wissensplattform FIT-Nursing Care (Vetsch, Haug & Vosseler, 2020) und RefHunter, einer Informationsplattform für systematische Literaturrecherche (Nordhausen & Hirt, 2023).
Zunächst müssen die Physiotherapeut:innen eine klinische Fragestellung entwickeln und diese in ein recherchierbares Format überführen. Sie zerlegen diese also in die zentralen Bestandteile (Suchkomponenten), die später in der Suche berücksichtigt werden sollen (Kasten). Zur Formulierung von Fragestellungen zu physiotherapeutischen Interventionen eignet sich das PICO-Schema (Davies, 2011). Hierbei wird für eine bestimmte Personengruppe (P) nach der Wirksamkeit einer Intervention (I) im Vergleich zu einer Kontrollintervention (aus dem Englischen C für Comparison) hinsichtlich eines oder mehrerer Ergebnissen (aus dem Englischen O für Outcome) gefragt (Behrens & Langer, 2022). Das PICO-Schema lässt sich unter anderem dann abwandeln, wenn in der Fragestellung nicht nach einer Kontrollintervention gefragt wird (PIO) oder keine Ergebnisse (PI oder PIC) festgelegt werden.
angelehnt an Nordhausen und Hirt (2023)
Als Beispiel für eine Studiensuche dient die folgende Fragestellung: Welche physiotherapeutischen Massnahmen zur Behandlung von Personen mit einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom gibt es? Die aus den zentralen Bestandteilen abgeleiteten Suchkomponenten sind «komplexes regionales Schmerzsyndrom» (Personengruppe) und «Physiotherapie» (Intervention).
Bei der Sammlung von Suchbegriffen macht es Sinn, relevante Begriffe und Synonyme aus den Suchkomponenten zu entnehmen. Es ist zudem ratsam, die Suchbegriffe in Englisch zu formulieren, da es der Sprache in internationalen Datenbanken entspricht.
Sind die Suchbegriffe vorläufig festgelegt, empfehlen die Autor:innen, eine orientierende Suche beispielweise mit Google Scholar durchzuführen. So lässt sich die Relevanz der gewählten Suchbegriffe überprüfen. Anhand der Resultate können die Physiotherapeut:innen einschätzen, ob diese Begriffe in Studien verwendet werden und/oder welche weiteren Suchbegriffe sie einsetzen könnten (Tabelle 1).
Für eine fokussierte Studiensuche eignen sich unter anderem die Datenbanken Epistemonikos, Cochrane Library, PubMed und PEDro. Epistemonikos ist auf Reviews ausgerichtet, die aus unterschiedlichen Datenbanken gesammelt werden, einschliesslich PubMed, CINAHL, Cochrane Library und Embase (Rada et al., 2020). Die Cochrane Library enthält mehrere Unterdatenbanken. Neben der Sammlung aller Cochrane Reviews (methodisch hochstehende und standardisierte Übersichtsarbeiten zu (meist) klinischen Fragestellungen), findet sich hier auch eine Datenbank für Interventionsstudien («Trials») (Cochrane, 2023). PubMed ist eine umfangreiche Datenbank, in der Reviews sowie Primärstudien aufgeführt sind. PEDro, eine Datenbank für randomisierte kontrollierte Studien (randomized controlled trials, RCT), Reviews und Leitlinien für die klinische Praxis in der Physiotherapie, wird in diesem Artikel nicht weiter ausgeführt. Suchanfragen mit einer komplexen Sucheingabe wie im Beispiel (multiple Suchbegriffe, Phrasensuche, Anführungszeichen, Trunkierung, verschiedene Boolesche Operatoren und Klammern) sind in PEDro im Vergleich zu den vorgeschlagenen Datenbanken limitiert.
Am besten starten Physiotherapeut:innen zuerst eine fokussierte Studiensuche in Epistemonikos. Lässt sich die aufgeworfene Frage nach der Auswertung beantworten, ist eine Suche in der Cochrane Library und PubMed obsolet. Bleibt die Suche in Epistemonikos ergebnislos, sollten sie die Suche in der Cochrane Library fortsetzen und – beim Ausbleiben geeigneter Reviews – in der Cochrane Library und in PubMed nach Primärstudien suchen.
Die Autor:innen empfehlen, sofern möglich, die Eingabe im Titel oder Titel-Abstract-Suchfeld. Das ist für Epistemonikos und die Cochrane Library voreingestellt. In PubMed können Physiotherapeut:innen das entsprechende Suchfeld in der erweiterten Suche auswählen. Zudem lassen sich weitere Filter wie Publikationsjahr oder Studiendesign anwenden.
Die Suche am 23. November 2023 ergab 21 Treffer in Epistemonikos. Nach dem Filtern der letzten fünf Jahre und dem Studiendesign Systematic Review (unter «Publication type») sind zehn Treffer übrig. Einer der Treffer ist ein aktueller Cochrane Review, der 34 Primärstudien enthält (Smart, Ferraro, Wand & O’Connell, 2022). Die Autor:innen des Cochrane Reviews fanden unterschiedliche physiotherapeutische Massnahmen zur Behandlung eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms. Darunter fallen elektrophysikalische Modalitäten wie Ultraschall, Laser, Whirlpools und neuromuskuläre elektrische Stimulation, kortikal gelenkte sensomotorische Rehabilitationsstrategien wie Graded Motor Imagery, Spiegeltherapie und Prismenanpassungstherapie, Bewegung (unter anderem aktiv, aktiv-unterstützt, passiv, dehnend), kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen, manuelle Lymphdrainage und Beratungen. Für dieses Fallbeispiel wichtig zu betonen ist, dass der Fokus auf dem Therapiespektrum und nicht auf der Wirksamkeit einzelner Interventionen lag. Daher war keine Auswertung für Therapieempfehlung(en) angezeigt. Weitere Informationen dazu sind im Cochrane Review zu finden (Smart et al., 2022).
Der vorliegende Artikel veranschaulicht einen beispielhaften Ansatz zur fokussierten Evidenzsuche im klinischen Alltag. Über Epistemonikos liess sich ein methodisch hochstehender Review zur Fragestellung finden. Um Ergebnisse zu implementieren, müssten die gefundenen Interventionen in einem nächsten Schritt auf ihre Wirksamkeit überprüft und einzelne Charakteristika der Interventionen sowie vorhandene Ressourcen beurteilt werden. Zur physiotherapeutischen Problemlösung und Entscheidungsfindung tragen also nicht nur die Erfahrungen der Physiotherapeut:innen und die gegebenen Rahmenbedingungen und Patientenpräferenzen bei. Auch identifizierte Evidenz aus Studien können den Physiotherapeut:innen dienlich sein.
Julian Hirt
Dozent am Departement Gesundheit der Ostschweizer Fachhochschule (OST) und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Pragmatic Evidence Lab am Research Center for Clinical Neuroimmunology and Neuroscience Basel (RC2NB) der Universität und des Universitätsspitals Basel
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Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Gesundheit der OST
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Studiengangsleiter BSc in Physiotherapie am Departement Gesundheit der OST
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Dozentin und Projektleiterin am Departement Gesundheit der OST
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Behrens, J. & Langer, G. (2022). Evidence based Nursing and Caring. Methoden und Ethik der Pflegepraxis und Versorgungsforschung (5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage). Bern: Hogrefe Verlag.
Cochrane. (2023). Cochrane Library. Verfügbar unter: https://www.cochranelibrary.com/
Davies, K. S. (2011). Formulating the Evidence Based Practice Question: A Review of the Frameworks. Evidence Based Library and Information Practice, 6(2), 75–80. https://doi.org/10.18438/B8WS5N
Hirt, J., Neyer, S. & Nordhausen, T. (2019) [Comprehensive literature searches – an overview]. GMS Medizin – Bibliothek – Information, 19(1-2), Doc05. https://doi.org/10.3205/mbi000430
Hirt, J., Vetsch, J., Haug, S. & Nordhausen, T. (2022). Studien: gesucht – gefunden. Empfehlungen zur fokussierten Studiensuche in der klinischen Praxis. PflegeZeitschrift, 75(4), 41–44. https://doi.org/10.1007/s41906-021-1199-z
Mangold, S. (2013). Evidenzbasiertes Arbeiten in der Physio- und Ergotherapie. Reflektiert – systematisch – wissenschaftlich fundiert (2., aktualisierte Auflage). Berlin: Springer-Verlag.
Messer, M. (2016). Die richtige Suchstrategie. Das kleine Einmaleins der Literaturrecherche. PflegeZeitschrift, 69(8), 478–479.
Nordhausen, T. & Hirt, J. (2023). RefHunter. Systematische Literaturrecherche. Verfügbar unter: https://refhunter.org/
Rada, G., Pérez, D., Araya-Quintanilla, F., Ávila, C., Bravo-Soto, G., Bravo-Jeria, R. et al. (2020). Epistemonikos: a comprehensive database of systematic reviews for health decision-making. BMC Medical Research Methodology, 20, 298. https://doi.org/10.1186/s12874-020-01157-x
Smart, K. M., Ferraro, M. C., Wand, B. M. & O’Connell, N. E. (2022). Physiotherapy for pain and disability in adults with complex regional pain syndrome (CRPS) types I and II. Cochrane Database of Systematic Reviews, 5(5), CD010853. https://doi.org/10.1002/14651858.CD010853.pub3
Vetsch, J., Haug, S., Schoberer, D., Toromanova, A., Fangmeyer, M., Nordhausen, T. et al. (2021). Leitlinien – Hilfsmittel für die bestmögliche pflegerische Praxis. Krankenpflege – Soins infirmiers – Cure infermieristiche, 114(1), 26–28.
Vetsch, J., Haug, S. & Vosseler, B. (2020). FIT-Nursing Care. Wissensplattform zur Unterstützung von Evidenzbasierter Pflege. Methodenpapier. Version 2.0 (FHS St.Gallen, Hrsg.). St.Gallen. Verfügbar unter: https://www.fit-care.ch/fit-nursing-care/methodik