Psychische Erkrankungen: In Bewegung zu mehr Stabilität
Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet – und werden dennoch oft unterschätzt. In der Schweiz war im letzten Jahr mehr als ein Drittel der Bevölkerung (35 %) von psychischen Problemen betroffen. Besonders häufig treten Symptome von Essstörungen (13 %), Depressionen (12 %), Angststörungen (9 %) oder sozialen Phobien (10 %) auf. Jede achte Person (13,5 %) zeigte schwerere Symptome, die mit Einschränkungen im Alltag oder mit Suizidgedanken verbunden waren (1).
Trotz dieser alarmierenden Zahlen bleiben viele Betroffe ohne angemessene Versorgung: Über 40 % der Personen mit einem Suizidversuch erhalten keine fachliche Unterstützung, und nur ein Drittel der Betroffenen mit Suizidgedanken sucht professionelle Hilfe. Viele leiden im Verborgenen – und bleiben im Gesundheitssystem unsichtbar.
Psychische Erkrankungen äussern sich auf vielfältige Weise: Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Schlafstörungen, sozialer Rückzug, Konzentrationsprobleme und körperliche Beschwerden sind häufige Begleiterscheinungen. Sie mindern die Lebensqualität, erschweren die Alltagsbewältigung und können bis zur Arbeitsunfähigkeit oder Frühberentung führen.
Physiotherapie wirkt: Ressourcenorientiert und unterstützend
Bewegung hat nachweislich einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit. Körperliche Aktivität kann die Stimmung aufhellen, Stress abbauen und Angstsymptome lindern. Auch wenn die Rolle der Physiotherapie in klinischen Leitlinien bisher nur vereinzelt erwähnt wird (2), zeigen sowohl praktische Erfahrungen als auch Studien: Gezielte physiotherapeutische Bewegungsangebote stärken die psychische Stabilität und helfen den Alltag wieder aktiv zu gestalten.
Zentrale physiotherapeutische Massnahmen sind:
- Ausdauer- und Krafttraining
Zur Steigerung von Antrieb, Selbstwirksamkeit und zur Verbesserung der Stimmung. - Entspannungs- und Körperwahrnehmungsübungen
Zur Regulierung von Stress und innerer Anspannung. - Funktionelles Training
Zur Förderung alltagsrelevanter Fähigkeiten und sozialer Teilhabe.
Ziel ist es, durch strukturierte Bewegung Lebensqualität zurückzugewinnen, psychische Belastung aktiv zu bewältigen und Stabilität zu fördern.
Wissenschaftlich belegt: Physiotherapie zahlt sich aus
Die Studie der Berner Fachhochschule (BFH) zeigt klar: Physiotherapie wirkt – und spart Kosten. Internationale Leitlinien empfehlen physiotherapeutische Interventionen bisher nur punktuell – etwa bei Demenz. Für viele psychische Erkrankungen ist die Rolle der Physiotherapie noch nicht klar definiert. (2).
Gleichzeitig belegen zahlreiche Studien die Wirksamkeit körperlichen Trainings – insbesondere bei Depressionen. Die deutsche Leitlinie S3 zur Unipolaren Depression empfiehlt ein strukturiertes, supervidiertes Bewegungsprogramm mit Ausdauer-, Kraft- und Koordinationselementen als ergänzende Therapie (3).
Eine begleitende Meta-Analyse belegt zudem eine deutlich antidepressive Wirkung körperlicher Aktivität (4). Diese Evidenz unterstreicht die Bedeutung von Bewegung – und damit auch physiotherapeutisch begleiteter Bewegung – als sinnvollen Bestandteil in der Behandlung psychischer Erkrankungen.
Warum Physiotherapie mehr ist als nur Bewegung
Physiotherapeut:innen verbinden medizinisches Fachwissen mit praktischen Fähigkeiten und klinischer Erfahrung. Ihre Behandlungen basieren auf einer physiotherapeutischen Diagnose, aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie dem individuellen Therapieziel.
Im Zentrum stehen eine gezielte, therapeutische Behandlung, Beratung und Instruktion – abgestimmt auf den Gesundheitszustand und die Ressourcen der Patient:innen. Ziel ist es, Beschwerden zu lindern, Funktionen zu verbessern und die Selbstständigkeit zu fördern.
Die Behandlung umfasst
- Aktive Massnahmen wie Bewegungstherapie, Training oder Atemtherapie
- Passive Techniken wie manuelle Therapie
Literaturhinweise
(1) Peter C, Tuch A, Schuler D. Psychische Gesundheit – Erhebung Herbst 2022. Wie geht es der Bevölkerung in der Schweiz? Sucht sie sich bei psychischen Problemen Hilfe? Obsan Bericht 03/2023. Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium; 2023.
(2) Schurz A, Taeymans J, Baur H, Lutz N. Die Rolle der Physiotherapie bei nichtübertragbaren Krankheiten und Sturzprävention in der Schweiz. Endbericht. Bern: Berner Fachhochschule; 2024.
(3) DGPPN, BÄK, KBV, AWMF. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression – Kurzfassung, 2. Auflage. Version 1. Berlin: Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ); 2017.
(4) Schuch FB, Vancampfort D, Richards J, et al. Exercise as a treatment for depression: A meta-analysis adjusting for publication bias. J Psychiatr Res. 2016;77:42-51.