Was uns verbindet und was uns unterscheidet
Was tun, wenn man nach dem Doktortitel gerne weiter forschen möchte? Dr. Sabrina Grossenbacher-Eggmann macht es vor und reiste dank dem «Postdoc.Mobility»-Grant des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) für ein Jahr nach Melbourne, um an ihrem Forschungsprojekt zu arbeiten.
Text: Fabienne Reinhard
«In der Praxis stellen sich mir die Fragen und in der Forschung finde ich die Antworten darauf. Das macht die Kombination dieser beiden Bereiche so spannend», sagt Sabrina Grossenbacher-Eggmann, Therapieexpertin des Berner Inselspitals. Am Universitätsspital fehlt im Gegensatz zur Forschung in der Medizin jedoch eine Grundfinanzierung für die Physiotherapieforschung. Forschen muss die Therapieexpertin mit einem Doktortitel dementsprechend zum grössten Teil in ihrer Freizeit. Doch für Grossenbacher-Eggmann soll die Forschung zu einem rentablen Berufszweig nebst der Arbeit an den Patient:innen werden. Deshalb liess sie sich intern über die Universität Bern beraten. Dort wurde ihr ans Herz gelegt, ein Auslandjahr zu machen, da dies für fast alle Stipendien (Grants) eine Bedingung ist. «Mobilität wird bei Forschungsgrants grossgeschrieben», weiss die engagierte Physiotherapeutin, die ihren Mastertitel in Österreich absolvierte und den Doktortitel in den Niederlanden. Die Bewerbung um einen «Postdoc.Mobility»-Grant des SNF lag auf der Hand.
Hierzulande ist Grossenbacher-Eggmann fast die Einzige, die zur Frührehabilitation auf der Intensivstation erforscht. Sie hatte deshalb nie eine:n Betreuer:in oder eine:n Mentor:in auf diesem spezialisierten Fachgebiet gehabt. Im Oktober 2023 lernte sie auf einem Kongress eines ihrer Forschungsvorbilder kennen: Professorin und Physiotherapeutin Carol Hodgson der «Monash University» in Melbourne. Grossenbacher-Eggmann zögerte nicht lange und fragte Hodgson als Betreuerin an, worauf diese zusagte. Erst dachte die engagierte Physiotherapeutin daran, einige Monate unbezahlte Ferien zu nehmen, um bei Hodgson zu forschen und zu lernen. Auf Empfehlung von jemandem, der selbst den «Postdoc.Mobility»-Grant bekommen hatte, entschied sich Grossenbacher-Eggmann dann doch für die Bewerbung um den Grant. Aber das braucht seine Zeit: Die Therapieexpertin benötigte fast einen Monat neben ihrer Arbeit, um ihr Projekt zu beschreiben, einen Karriereplan zu verfassen und die Bewilligungen sowie Referenzen einzuholen. Notwendig war auch eine Bestätigung der Universität im Ausland, dass diese Grossenbacher-Eggmann in ihrem Forschungsprojekt fördert und begleitet.
Die Mühe zahlte sich aus: Grossenbacher-Eggmann erhielt den «Postdoc.Mobility»-Grant. Damit kommt der SNF für die Miete und Lebensunterhaltungskosten im Ausland inklusive Flüge auf, übernimmt 5000 Franken an die Forschungskosten und finanziert somit der Physiotherapeutin auch die Reise zum Weltkongress für Physiotherapie 2025 in Tokio.
Ihr Arbeitsplatz ist am «Australian and New Zealand Intensive Care Research Centre» (Australisches und neuseeländisches Forschungszentrum für Intensivmedizin, ANZIC-RC), das an der «Monash University» angegliedert ist. Diese Uni gibt ihr Zugriff auf die benötigten Infrastrukturen und stellt die personelle Unterstützung zur Durchführung ihres eigenen Forschungsprojekts sicher. Arbeiten abgesehen von forschen darf sie aber aufgrund des «Research Activities 408 Visa» nicht. Ausserdem ist ihr Physiotherapiediplom in Australien nicht anerkannt. Das stört die Physiotherapeutin aber nicht. Sie sieht die Vorteile: «Ich kann einen anderen Einblick in die Physiotherapie gewinnen, indem ich den Physiotherapeut:innen beim Arbeiten zuschaue und mich mit ihnen austausche. Zudem erfahre ich, wie interprofessionelle Forschung gelebt wird. Das ist extrem spannend!»
Für die ersten zweieinhalb Monate hat sich die Forscherin in einem Airbnb in der Nähe des ANZIC-RCs eingemietet. «Das ist oft einfacher, als sich um eine befristete Wohnung zu kümmern, und alles ist vorhanden», sagt Grossenbacher-Eggmann zufrieden. Trotzdem ist es nach fast 20 Jahren am Inselspital Bern ein grosser Wechsel in ein unbekanntes Abenteuer.
Doch nun ist Grossenbacher-Eggmann seit Juni 2024 für ihren Postdoc in Melbourne und bleibt dort für ein Jahr. Die Validierung und das E-Learning des deutschen «Chelsea Critical Care Physical Assessment tool» (CPAx) hat sie bereits im Rahmen ihrer Doktorarbeit erforscht. Im Rahmen ihres Postdoc geht die Therapieexpertin der Frage nach, ob und wie sich die körperliche Funktion und Aktivität von Patient:innen während des Aufenthalts auf der Intensivstation verändert (Responsiveness und minimal klinisch relevante Differenz). Es handelt sich dabei um ein multizentrisches Projekt, das 80 Patient:innen von zwei australischen Spitälern sowie 40 aus dem Inselspital in Bern einschliesst. Dabei werden die Funktion und Aktivität mittels verschiedenen Assessments beim Ein- und Austritt gemessen, die klinische Veränderung von der behandelnden Physiotherapie beurteilt und die Resultate mittels anker- und verteilungsbasierten Methoden ausgewertet. «Idealerweise würde man in einem solchen Fall die Patient:innen zur empfundenen Veränderung befragen – auf der Intensivstation ist dies logischerweise nicht möglich», erklärt die Forscherin.
Es wundert nicht, dass es bei ihrem Postdoc bereits ein paar Schwierigkeiten gab. Doch Grossenbacher-Eggmann ist sich das mittlerweile gewohnt: «Forschen ist eine Achterbahnfahrt. Es gibt überirdische Hochs und unterirdische Tiefs», sagt sie und lacht. Es brauche sehr viel Energie und Nerven. Auch das Schreiben des Protokolls oder einer Publikation sei anstrengend: «Beim 30. Entwurf stösst man an seine Grenzen», gibt Grossenbacher-Eggmann zu. Den Grant bekommen zu haben, gab ihr jedoch auch wieder Kraft und Motivation zurück. «Es braucht vor allem viel Freude am Forschungsprojekt», so die Meinung der Therapieexpertin. Die Intensivstation faszinierte sie schon immer.
Als sie 2006 im Inselspital anfing, existierte noch keine Forschung auf diesem Gebiet. Die erste randomisierte Studie mit Patient:innen auf der Intensivstation weltweit wurde 2009 publiziert – neun Jahre später folgte Grossenbacher-Eggmanns erste randomisierte kontrollierte Studie zum Thema «Effects of early, combined endurance and resistance training in mechanically ventilated, critically ill patients» (Auswirkungen eines frühen, kombinierten Ausdauer- und Krafttrainings bei mechanisch beatmeten, schwerkranken Patient:innen). Mit ihrer Forschungstätigkeit möchte sie die Lebensqualität von kritisch kranken Patient:innen verbessern: «Patient:innen auf der Intensivstation überleben, aber es gibt oft körperliche und mentale Langzeitfolgen. «Wir Physiotherapeut:innen können das Leben wieder lebenswert machen. Das ist meine Motivation!», sagt die Forscherin.
In einer der nächsten Physioactive-Ausgaben stellt Sabrina Grossenbacher-Eggmann ihr Leben in der Grossstadt Melbourne sowie den neuen Arbeitsplatz am ANZIC-RC vor. Sobald die Forschungsergebnisse ihres Postdoc-Projekts vorliegen, wird Physioactive wieder berichten.