Klausurtagung 2024
Hinweis: Dieser Text wurde von Micaela Hähni & Martin Verra, Co-Präsidium Physiobern Ende 2023 verfasst. Dennoch ist er hochaktuell und spannend zu lesen.
In der Berufspolitik erlebten wir in diesem Wahlherbst zum Thema Krankenkassenprämienerhöhungen wieder ein wahres Festival an Schuldzuweisungen. Wie so vieles hat auch dieses Thema jeglichen Hauch von Lieblichkeit verloren. Um es frei nach Kim de l’Horizon zu sagen: Die Kostenträger wollten den wundlosen Schmerzen eine physiotherapeutische Wunde geben. Die Krankenkassenprämien steigen erneut und deshalb brauchte es auch in diesem Jahr wieder «Schuldige». Dieses politische und ökonomische Trugbild verfügt über die verführerischen Eigenschaften eines logischen Deliriums. Darüber kann man sich streiten und das haben die diversen Stakeholder in den Medien auch ausführlich getan. Das mittlerweile traditionelle Physiotherapie-Bashing war ein mit unhaltbaren Vorwürfen gratinierter Pathos-Auflauf, den wir Physiotherapeut:innen logischerweise für unverdaulich empfanden.
Als wahre und substanzielle «Schuldige» sind u.a. die unverhältnismässigen Medikamentenpreise und die zu hohe Zahl an Spitälern in der Schweiz bestens bekannt. Diese Bereiche sindjedoch berufspolitisch weiterhin sehr gut organisiert respektive zementiert. Deshalb wurde im Rahmen der jährlich zurückkehrenden Symbolpolitik und Erregungsbewirtschaftung auch jetzt wieder auf deutlich kleinere Stakeholder wie z.B. die Physiotherapie (aktuell verantwortlich für circa 3.6% der Gesamtkosten im Gesundheitswesen) und neu sogar die klinische Psychologie und Podologie (die sich Punkto Kosten höchstwahrscheinlich im Promillebereich bewegen) ausgewichen. Es handeln sich dabei um «falsche Fakten», die plausibel klingen und so oft weiterzitiert werden, dass sie weiterhin als «Wahrheit» genommen werden. Leistungserbringer, Kostenträger und die öffentliche Hand treten in Konkurrenz. Das ist Hybris auf höchstem Niveau! Logischerweise haben wir Physiotherapeut:innen zu diesem Thema besondere Allergien und besteht diesbezüglich eine Akzeptanzlücke. Die eigene Empathie und das Berufsethos werden so arg auf den Prüfstand gestellt, dass es nicht immer leichtfällt, unser konsekutives Entsetzen zu zügeln.
Ungewollt müssen wir jedoch unsere Krisenmuskeln trainieren. Lasst uns weiterhin sehr genau zwischen Emotionen und Fakten unterscheiden. Dies aus dem hoffentlich nicht naiven Glauben, dass die Tarifverhandlungspartner grundsätzlich vernunftbegabt sind. Schlussendlich geht es bei den Verhandlungen nicht um Kampf, sondern Konsensus. Die Systeme sind komplex, vernetztes Denken und gegenseitiges Vertrauen sind gefragt, statt isoliertes betriebswirtschaftliches und ökonomisches Spezialwissen. «Vide, cui fidas – Schau, wem du vertraust»! Dies ist keine Spekulation auf die vermeintliche Leichtgläubigkeit der Physiotherapie. Wir Physiotherapeut:innen sind keine Wächter der Harmonie. Wenn es um das Wohl der gesamten Physiotherapie geht, wäre es wohl dumm einfach zu glauben, dass schon alles gut kommt. Professionelle Geschäftsbeziehungen sind kein Tauschgeschäft: wir sollten nicht vertrauen, um vertraut zu werden.
Denn auch Vertrauen ist ein Muskel, den man trainieren kann, ohne dabei auch nur ansatzweise in «Gschpürschmi-Prosa» abzugleiten. Vertrauen setzt Selbstvertrauen voraus. Vertrauen kann man nicht kaufen, leihen, erzwingen oder einfordern. Vertrauen muss man sich erarbeiten respektive verdienen. Denn auch hier gilt: Der Weg zum Vertrauen muss im Gehen entstehen. Vertrauen baut auf den Faktoren Empathie («Wir kümmern uns um Sie»), Authentizität (ehrlich, unverstellt, ohne Doppelspiel) und Logik («Unsere Entscheidungen und Handlungen sind nachvollziehbar und glaubwürdig») auf. Vertrauen ist auch ein Verb, nicht nur ein Substantiv. Und schlussendlich bekommt man das entgegengebrachte Vertrauen geschenkt (oder auch nicht…). Vertrauen ist demzufolge der Kitt der professionellen Zusammenarbeit, auch – oder gerade – unter Tarifverhandlungspartnern, die sich gegenseitig nicht zwingend heiss lieben müssen. Wir sollten vertrauen, wenn das Verhalten des Gegenübers auf professioneller Kompetenz und persönlicher Glaubwürdigkeit beruht. Vertrauen in die notwendigen Veränderungen des Physiotherapietarifs hat so seine Tücken.
Laut Redaktor des Tagesanzeigers Philip Loser ist folgendes ein oft gesehenes Muster in der Schweiz: zuerst verändern sich die Ansichten in der Bevölkerung (sehr langsam), danach zieht die Politik nach (noch langsamer). Wie kommen wir schnappatmungsfrei durch diesen Prozess? Wenn das finale Resultat von finanzieller Gerechtigkeit (und gerne auch überzeugender Klarheit und Finesse) geprägt ist, bleibt uns nichts anders übrig, als auszubalancieren zwischen politischem Fingerspitzengefühl und unverblümter Direktheit.
Denn eins ist klar: wir wollen nicht weiterhin gezwungen werden, in der Vergangenheit zu leben und den längst veralteten Preis dafür zu erhalten respektive mit den hoffnungslos überdatierten ambulanten Physiotherapietarifen zu arbeiten. Auch wenn Kostenträger, Politik und Leistungserbringer sich hinsichtlich des Preises uneinig sind, teilen sie das gleiche Ziel: eine zukunftsorientierte, umfassende, evidenzbasierte Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in der Schweiz sicherzustellen. Jetzt benötigen wir noch ein vertrauensvolles Bekenntnis aller Verhandlungspartner zu folgender Prämisse: «…zu fairen Tarifen»! Das politische Handeln wird im Idealfall wissenschaftlich gestützt: diese Vision ist von der medizinischen Forschung inspiriert. Die Wissenschaftsjournalistin Melanie Paschke hat es folgendermassen zusammengefasst: «Es gibt ein Problem, ich habe eine Hypothese für eine politische Lösung, ich teste diese Lösung mit einem soliden wissenschaftlichen Ansatz, ich erhalte Ergebnisse, und auf dieser Grundlage kann ich dann entscheiden: Ja, diese Politik ist gut, oder nein, sie muss verbessert oder eine andere entwickelt werden».
Wir sollten jedoch nie vergessen: Wissenschaft analysiert, Politik entscheidet. «Have a little faith in me», sang der legendäre Joe Cocker. «Vide, cui fidas – Schau, wem du vertraust», sagten bereits die alten Römer. Bleiben wir also intellektuell skeptisch, aber menschlich optimistisch.
Sprechen wir demzufolge unseren Tarifverhandlungspartnern grundsätzlich unser Vertrauen aus, aber lasst uns nicht nachlässig werden dieses immer wieder auf Empathie, Authentizität und Logik zu prüfen.
Micaela Hähni & Martin Verra, Co-Präsidium Physiobern