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Unus ex pluribus – Einheit durch Vielfalt

diversity

Da der Text noch nicht allen Mitglieder:innen bekannt ist, veröffentlichen wir die Textreihe von Michaela Hähni & Martin Verra vom Kantonalverband Bern auch hier gerne nochmals online. Auch in diesem Jahr ist der Text hochaktuell und sehr lohnenswert zu lesen.

Wenn sich Theoretiker:innen vs. Praktiker:innen, Praxisinhaber:innen vs. Chefphysiotherapeut:innen, Angestellte vs. Selbstständige, Grosspraxen vs. Kleinpraxen, Diplomierte vs. Studierende, Bachelors vs. Master-Absolvent:innen, Deutschschweizer:innen vs. Romands und Ticinesi, Noch-nicht-wirklich-Alte vs. vermeintlich-Junggebliebene, Alternativmedizin-Inspirierte vs. Evidenzbasierte und so weiter gegenüber stehen, was löst dies aus? Wie geht es dir, geschätzte Leserin, geschätzter Leser dieses Essays bei all diesen kontroversen Gegenüberstellungen? Bei uns ziehen sich dabei die Herzkranzgefässe zusammen. Diese zuvor aufgelisteten und spezialisierten «Seelenzustände» mögen ihre unterschiedlichen Daseinsberechtigungen haben, sollten jedoch – wenn es sich um die Kommunikation von berufspolitischen Anliegen handelt – eine maximale Exilfähigkeit erlangen. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk postulierte bereits vor Jahren: »Wir brauchen kein Kommunismus, sondern ein Ko-Immunismus». Auf die Physiotherapie übertragen, heisst dies, wir müssen uns gegen geistiges Gift impfen, welches uns u.a. in Organisationsformen oder Kantonalkulturen oder Altersgruppen oder Ausbildungsklassen einteilt, die gegeneinander in Konkurrenz treten.

Es steht ausser Zweifel – und das ist den meisten auch bewusst – dass in grossen Organisationen und innerhalb Berufsgruppen verschiedene Sicht- und Handlungsweisen aufeinandertreffen. Es gibt also Unterschiede – klar! – diese muss es geben und diese gibt es somit auch bei uns. Darüber hinaus aber verbindet uns Physiotherapeut:innen Grundlegendes und Wesentliches und das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, sondern müssen dies stärken und darauf aufbauen. Was ist das, was uns vereint? Was ist das Wesentliche und das Grundlegende, das die berufliche Identität von Physiotherapeut:innen

ausmacht und in jeder DNA eines Berufsmitglieds steckt? Ist es eine spezifische Sozialisierung? Wohl kaum, denn in der personalisierten Physiotherapie gehen wir doch alle von individuellen Charakteristika eines jeden Menschen aus, die für die eine und gegen die andere Therapieform sprechen, und wir suchen nach individuellen Faktoren für eine massgeschneiderte Behandlung der Patientin oder des Patienten. Es gibt also verbindende Elemente, die höher stehen, die sich in humanitären Werten, Haltungen und Verhaltensweisen ausdrücken, wie z.B. Empathie, Toleranz, Selbstdisziplin, Respekt vor der Autonomie der Patient:innen, Gerechtigkeit, Fürsorge, Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung. 

«Unsere gemeinsamen Werte sind Teil unserer DNA und bringen unsere Haltungen und Erwartungen, die wir von uns selbst und anderen haben, zum Ausdruck» (Chartered Society of Physiotherapy, Values 2018-2021). 

In unserem Berufsfeld begegnen wir daher Patient:innen indem wir genau zuhören, präsent, geduldig und achtsam sind, Respekt vor anderen Ansichten zeigen, verantwortungsbewusste Entscheide treffen, Handlungen fachlich begründen, ehrlich und authentisch bleiben. Diese Haltung bringen wir auch gegenüber unseren Berufskolleg:innen ein, gegenüber unseren Mitmenschen und auch gegenüber uns selbst – ganz gemäss der Charta.

Vor dem liberalen Krankenversicherungsgesetz sind alle Physiotherapeut:innen gleich. Wie aber gehen wir mit dem Tatbestand um, dass gesetzlich gleichgestellte Individuen sich manchmal bezüglich ihres sozialen und wirtschaftlichen Status doch wie Tag und Nacht voneinander unterscheiden? Die Forderung nach Gleichheit ist eine Provokation für vernunftliebende Physiotherapeut:innen und – leider – de facto unmöglich. Das Anderssein zu schützen und sichtbar zu machen, ist eine Schweizer Tugend. Stärken wir diese! Fordern wir mehr Gerechtigkeit für die Vielfalt! Und natürlich sollen auch alle Physiotherapeut:innen die gleichen Chancen in ihrem Berufsleben haben. Da naturgemäss Chancen individuell unterschiedlich genutzt werden, entwickelt sich ganz automatisch eine Vielfalt in der physiotherapeutischen Landschaft, entsprungen aus der Individualität ihrer Therapeut:innen. Das ist nicht nur eine Tatsache, das ist vor allem eine Stärke!

«Unus ex pluribus – Einheit durch Vielfalt». Es braucht also weder eine überdimensionale Harmoniebedürftigkeit noch eine absolute Konfliktvermeidung – vielmehr braucht es das Bewusstsein, dass die Vielfalt und das Anderssein eine Stärke ist und dass diese gewinnbringend genutzt werden soll, ja, genutzt werden muss! Die Ärzteschaft macht uns dies vor. Unter dem Dach der FMH sind unterschiedliche, äusserst heterogene «Spezies» beherbergt. Nehmen wir als kleines Beispiel die Wirbelsäulenchirurgie. Die meisten Neurochirurgen und orthopädischen Chirurgen betrachten sich im Operationssaal viel eher als Konkurrent:innen denn als akademische Berufskolleg:innen. Dennoch treten sie nach aussen vereint auf, Schulter an Schulter. Oder besser: «Rücken an Rücken». Die FMH ist ein bunter Strauss an Berufsausrichtungen, aber, wenn es um ihre berufspolitischen Forderungen geht, sind sie alle vereint. Und genau deswegen sind sie oft auch äusserst erfolgreich in ihren politischen Forderungen. Lernen wir von ihnen, lernen wir aber auch von uns selbst, aus unserer Erfahrung und unserer eigenen Geschichte. Alan Lee formulierte es vor zwei Jahren sehr treffend: 

«The time is now for the physical therapy profession to learn from the past and define its societal identity at large. Because those who cannot remember the past are condemned to repeat it – even in the digital age”

Lasst uns also gemeinsam voranschreiten, grosse Ziele anstreben und sie vereint erreichen.

Kollegiale Grüsse

Micaela Hähni & Martin Verra, Co-Präsidium Physiobern

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